Medienkrise durch das Internet
Die Auflagen- und Zuschauerzahlen, aber auch die Werbeeinnahmen der traditionellen Medien sinken seit bald drei Jahrzehnten weiterhin rapide. Diese Entwicklung begann zunächst aufgrund des medialen Wandels, mithin des Aufkommens des Internets und damit der Onlinemedien. Statt mit innovativen Geschäftsmodellen mit der Zeit zu gehen, setzten viele Medienhäuser auf Kosteneinsparungen durch Entlassungen, prekäre freie Beschäftigungsverhältnisse, die Einstellung von Titeln und Formaten, Redaktionszusammenlegungen sowie Medienfusionen – mit fatalen Folgen für den Qualitätsjournalismus.
Qualitätsverfall und Vertrauensverlust
In der Folge wenden immer größere Teile der Bevölkerung den traditionellen Medien und dem Allroundjournalismus den Rücken zu. Denn sie sind enttäuscht von
- schlechter, einseitiger oder völlig fehlender Recherche und einschließlich der ungeprüften Weitergabe von Agenturmeldungen sowie Fake News,
- falscher oder irreführender Berichterstattung und der Zunahme von Sensationsjournalismus und Clickbaits mit reißerischen Überschriften und Themen,
- unlektorierten Texten mit Orthographie- und Grammatikfehlern,
- der Verschiebung von der Tatsachenberichterstattung hin zu einem einseitigen Meinungs- und erzieherischen Agendajournalismus.
Auf diese Weise ist dem Allroundjournalismus der Kontakt zu seiner Zielgruppe, der Leser- Zuhörer- und Zuschauerschaft, abhandengekommen. Dem Digital News Report 2023 des Reuters Institute zufolge vertrauen im Schnitt nur noch 40 Prozent der Bevölkerung aus 46 Ländern den allroundjournalistischen Medien; in Griechenland waren es sogar nur noch 19 Prozent.
Gerade weil die Situation so besorgniserregend ist, dürfen die Augen vor diesen Entwicklungen nicht verschlossen werden. Ihre Leugnung und die nostalgische Hoffnung auf die Rückkehr der guten alten Tage kommen einer Realitätsverweigerung gleich.
Neue Medieninitiativen
Bedeutet das das Ende der Medienberichterstattung? Nein. Denn in einer immer komplexer werdenden Welt schwindet der Bedarf an gutem Journalismus nicht, er wächst. Die Rezipientinnen und Rezipienten wollen informiert werden und vor allem: Sie wollen nicht nur wissen, sondern sie wollen verstehen. Dieser wachsenden Nachfrage begegnen die traditionellen Medien und der Allroundjournalismus allerdings nicht mehr mit einem adäquaten Angebot.
Dieses stammt inzwischen vielmehr aus verschiedenen anderen Quellen:
- Fachmedien: Im Gegensatz zu den Publikumsmedien wachsen bei den Fachmedien die Auflagen- und Abrufzahlen und informieren ihre Rezipientinnen und Rezipienten, die in der Regel selbst Fachleute sind, mit fundiertem fachlichem Wissen.
- Unabhängige Medien: Immer mehr neue Titel und Medienprojekte wurden vor allem von kleinen und mittelständischen Medienunternehmen erfolgreich auf den Markt gebracht. Einige wenige etablierte Medienhäuser folgen diesem Ansatz mit fundierter Recherche, sachlicher Berichterstattung und qualitativ besetzten Fachressorts.
- Blogs, Foto-, Pod- und Videocasts und soziale Medienkanäle: Die Onlinemedien haben zu einer Demokratisierung des Journalismus geführt, denn prinzipiell jeder kann Texte und Ton- oder Videoaufnahmen im Internet veröffentlichen und verbreiten. Die Erstellerinnen und Ersteller dieser Text-, Bild-, Audio- und Videobeiträge bezeichnen sich häufig nicht selbst als Journalistinnen bzw. Journalisten – obwohl sie eigentlich genau das sind, wenn sie originär journalistische Qualitätskriterien einhalten (s. auch unten): Journalismus ist im Kern die Beschaffung, Verarbeitung und Verbreitung von Informationen, die der eigenen Meinungsbildung der Rezipientinnen und Rezipienten dienen. Die Themen müssen nicht zwingend tagesaktuell, aber für hinreichend große Zielgruppen relevant sein.
Verantwortung der Rezipierenden
Also ist doch alles gut in der neuen Medienwelt? Nein. Denn den Medienrezipientinnen und Medienrezipienten wird mehr Verantwortung abverlangt – die Verantwortung für die Qualitätsauswahl. Denn neue Medien garantieren keinen besseren Journalismus, sondern ermöglichen ihn nur. Es bleibt die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit. Denn die Demokratisierung etwa durch die Onlinemedien lässt auch unqualifizierte, falsche oder gar potenziell gefährliche Äußerungen zu. Doch in freiheitlich verfassten Gesellschaften sind auch sie von der Äußerungsfreiheit geschützt.
Wie schützt man sich vor diesem Hintergrund vor Verschwörungstheorien, Fake News und tendenziösem Erziehungsjournalismus? Genauso wenig wie die Qualität eines journalistischen Beitrags heute nur dadurch gewährleistet ist, dass ein großes (meist aber geschrumpftes oder fusioniertes) Medienhaus dahintersteht oder die Chefredaktion als Gatekeeper fungiert, ist ein unabhängig veröffentlichter Beitrag automatisch gut.
Den Unterschied macht die Expertise der Beitragserstellenden. Kommunizieren diese aus ihrem Fachgebiet und beachten die originär journalistischen Qualitätskriterien, wie die Sorgfaltspflicht? Besitzen sie also die fachliche Kompetenz, um sich dem Thema zu widmen, und investieren sie genügend Zeit und Aufwand in die multiperspektivische Recherche und verständliches Schreiben? Abzulesen ist dies an Faktoren wie fachlicher Bildungshintergrund, berufliche Erfahrung im Themengebiet, unter Umständen Abonnentenzahlen und Zustimmungswerten, nicht einseitiger Darstellung des Themas, nachprüfbare Nachweise für Tatsachen. Das ist guter Fachjournalismus – egal in welchen Medien er veröffentlicht wird.
Wissensexplosion
Doch Fachjournalismus ist nicht nur auf dem Vormarsch, weil sich der Allroundjournalismus in Verfall befindet. Wir leben heute in einer Wissensgesellschaft, der Epoche der Menschheitsgeschichte, in der die Wissensbasis exponentiell wächst. Inzwischen verdoppelt sich das Wissen weltweit im Abstand von nur wenigen Jahren, wobei sich dieser Prozess seit der Etablierung des World Wide Webs erheblich beschleunigt. Auf diese Weise kommt es regelrecht zu einer Wissensexplosion.
Aufgrund der kognitiven Beschränkungen des Menschen im Hinblick auf die individuelle Informationsverarbeitungs- und Gedächtniskapazität ist die Spezialisierung die einzig mögliche Strategie zur Begegnung der wachsenden Komplexität, und zwar in allen Lebensbereichen. Der Journalismus macht hier keine Ausnahme.
Fachjournalismus als Wissensarbeit
Journalismus hatte schon immer die Aufgabe, den Rezipientinnen und Rezipienten die Orientierung in einer komplexen Welt zu ermöglichen. Diese Welt wird immer komplexer. Es kommt zu einem „Information Overload“, den John Naisbitt treffend auf den Punkt gebracht hat: „Wir ertrinken in Informationen, aber wir hungern nach Wissen.2 Diese Verarbeitung von vielen, ungeordneten Informationen zu verwertbarem Wissen, also seine Prüfung, die Selektion des Wichtigen und Abgrenzung vom Unwichtigen, seine Einordnung in größere Zusammenhänge, seine Interpretation und Bewertung sowie die Übersetzung in eine allgemeinverständliche Sprache, ist die Aufgabe von Fachjournalistinnen und Fachjournalisten.
Produktivitätssteigerung
Die Spezialisierung von Fachjournalistinnen und Fachjournalisten erwächst nicht nur aus dieser beschriebenen Zwangsläufigkeit, sondern weist auch eine Reihe von Vorteilen auf. Dass Spezialisierung zu erheblichen Produktivitätssteigerungen führt, hatte bereits Adam Smith im Jahr 1776 festgestellt. Was in der regulären Arbeitsteilung gilt, gilt ebenso in der „Wissensarbeitsteilung“, also in der fachlichen Spezialisierung.
Wer sich in einer abgegrenzten Wissensdomäne bewegt, hat einen schmaleren relevanten Informationspool zu überblicken und kann sich besser auf dem aktuellsten Stand halten. Genauso wird es in allen Wissenschaftsdisziplinen gemacht, die sich mehr und mehr ausdifferenzieren. Zudem tritt der Lernkurveneffekt nach Bruce Henderson ein, der zu überdurchschnittlichen Lerngewinnen führt. Nach Malcom Gladwell führen 10.000 Stunden Fokussierung in einem Kompetenzfeld zur internationalen Meisterschaft. Der englischsprachige Begriff des „Beat Reporting“ („Beat“ hier im Sinne von Routine) bringt diesen Gedanken gut zum Ausdruck.
Reduzierung des Wettbewerbs
Allroundjournalistinnen und Allroundjournalisten, die über alles nur oberflächlich berichten können, stehen genauso in immensem Wettbewerb zueinander wie die thematisch breiten tagesaktuellen Nachrichtenmedien. Doch überall, wo die Dienstleistung austauschbar ist, kann nur über den Preis konkurriert werden. Die Folge sind sinkende Umsätze, Gehälter und Honorare.
Eine fachliche Spezialisierung dagegen führt zu einer Differenzierung. Wer auf ein Ressort, Fach oder Thema spezialisiert ist, sieht sich mit deutlich weniger Konkurrenz konfrontiert als ein Allrounder. Bei engen Spezialisierungen nimmt man ggf. eine Oligopol- oder Monopolstellung mit deutlich höherem Preisdurchsetzungspotenzial ein. Das Vertrauen in die aufgebaute Fachkompetenz führt dazu, dass man gefragte Expertin bzw. gefragter Experte des betreffenden Wissensgebiets ist. Im Idealfall kommen die Auftraggeber dann von allein.