Warum Extreme ziehen: Die Psychologie der Polarisierung in den Medien

Die Polarisierung der Gesellschaft kann psychologisch durch Gruppenprozesse erklärt werden. Aber auch die Medien tragen zur Verstärkung von immer extremeren Positionen bei. Dabei können im Journalismus verschiedene Strategien genutzt werden, um eine polarisierende Berichterstattung zu vermeiden und stattdessen konstruktive Diskussionen anzustoßen.
Pandemie, Klimawandel, Migration, Ukraine-Krieg, Nahostkonflikt: Wir leben in einer Zeit vieler Krisen. Und immer wieder hört man davon, dass diese Themen die Gesellschaft spalten – sie polarisieren.
Doch der Berliner Soziologe Steffen Mau stellte bei seiner Forschung etwas ganz anderes fest: Die Menschen in Deutschland sind sich in vielen zentralen Fragen erstaunlich einig. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort, Bildungsabschluss oder politischer Einstellung: Die Mehrheit ist wegen des Klimawandels besorgt, hält Migration für eine kulturelle Bereicherung und will keine geschlechtersensible Sprache. Zwar streite man sich über einzelne „Triggerpunkte“ (Mau, Lux & Westheuser, 2024), aber die Gesellschaft sei nicht grundsätzlich in verschiedene Lager aufgeteilt.
Warum entsteht also der Eindruck einer immer größeren gesellschaftlichen Polarisierung?
Die Macht der Gruppe: Polarisierung entsteht durch soziale Zugehörigkeit
In der Sozialpsychologie beschreibt Polarisierung die Tendenz, dass eine Gruppe gemeinsam eine extremere Meinung hat, als es die jeweils einzelnen Meinungen am Anfang waren. Dafür gibt es zwei verschiedene Erklärungen.
Zum einen sorgen sozialer Vergleich und Konformität mit Gruppennormen für Polarisierung. Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sei es eine Partei, die Nachbarschaft oder die Freundesgruppe, ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir stimmen daher eher dem zu, was wir für die Norm unserer Gruppe halten, auch wenn das nicht unbedingt unsere ursprüngliche Meinung war. Diese Polarisierung wird durch den Wunsch verstärkt, sich von anderen Gruppen abzugrenzen und dadurch die eigene Gruppenzugehörigkeit zu betonen. So werden extreme Positionen immer mehr akzeptiert und Meinungen anderer Gruppen abgelehnt.
Zum anderen hören Menschen in ihrer Gruppe immer wieder die Argumente, die ihre eigene Meinung stützen, was zu einer Verstärkung dieser Position führt. Kognitive Verzerrungen wie der Bestätigungsfehler bestimmen diese „persuasive Argumentation“ (überzeugende Kommunikation): Wir wählen Informationen so aus, dass sie unsere bereits bestehende Meinung unterstützen und ignorieren andere Meldungen. Wer eine offene Flüchtlingspolitik befürwortet, liest eher die Geschichte über den wirtschaftlichen Nutzen durch Arbeitskräfte als die über die Gefahr von Kriminalität und umgekehrt. Und das verschärft die bereits bestehende Meinung.
Außerdem wird Polarisierung auch durch einen emotionalen Aspekt verstärkt: Wir entwickeln positive Gefühle für unsere eigene Gruppe und negative Gefühle für die Gruppen, die anderer Ansicht sind. Statt über Fakten oder rationale Argumente zu reden, wird dadurch die Verbindung zur eigenen Gruppe intensiver, während die Ablehnung der anderen Gruppe bis zum Hass anwachsen kann. Schon ein Stichwort wie „Klimakleber” reicht oft, um Emotionen auszulösen, und erschwert dadurch sachliche Debatten.
Letztendlich schwächt Polarisierung den sozialen Zusammenhalt. Das war zum Beispiel in der Corona-Pandemie der Fall, als die Impfung und das Tragen einer Maske zum politischen Statement wurden und nicht mehr nur eine Gesundheitsvorsorge waren. Wenn das so weit reicht, dass ein Gefühl von „Wir gegen die“ entsteht und Kompromisse unmöglich werden, kann sogar die Demokratie in Gefahr geraten.
Die Rolle der Medien: Polarisierung als Geschäftsmodell
Aufsehenerregende Schlagzeilen, klare Feindbilder und dramatische Geschichten bedienen die Nachrichtenwerte: je extremer die Position, desto größer die Aufmerksamkeit. Denn Menschen reagieren vor allem auf emotionale und moralische Inhalte. Evolutionspsychologisch betrachtet hat es sich gelohnt, schnell Gefahren zu erkennen und Informationen in einfache Kategorien wie „gut“ und „böse“ aufzuteilen, um unser Überleben zu sichern. Heute sorgt es für hohe Klickzahlen und Verkaufsquoten.
Oft werden die Filterblasen in den sozialen Medien als Grund für Polarisierung genannt. Der Algorithmus zeigt uns das, was wir ohnehin schon glauben, und verstärkt damit unsere Position. Tatsächlich begegnen wir in den sozialen Medien aber auch komplett gegensätzlichen Meinungen. Und gerade dieser Kontakt kann Polarisierung paradoxerweise verstärken. Auch das liegt an unserer sozialen Identität: Wenn unsere Überzeugungen in der digitalen Welt infrage gestellt werden, nehmen wir das persönlich. Im Netz gibt es wenig andere Möglichkeiten, unsere Identität zu verteidigen, als sich noch bewusster vom „Gegner“ abzugrenzen. Anstatt rational zu argumentieren, bilden sich so emotionale Lager.
Medien können also selbst zur Polarisierung beitragen. Die AfD oder Donald Trump konnten auch deswegen so groß werden, weil ihren Provokationen medial Platz geboten wurde. Dabei bestimmen meist Minderheiten die Diskussion: Auf Twitter stammen 97 Prozent der politischen Inhalte von nur 10 Prozent der am stärksten polarisierten Nutzenden. Allein die Verwendung des Begriffs „Polarisierung“ hat sich in den deutschen Printmedien in den letzten zehn Jahren sprunghaft erhöht. So wird eine sich selbst verstärkende Eskalationsspirale in Gang gesetzt, wenn durch eine Polarisierung in den Medien auch eine gesellschaftliche Polarisierung entsteht.
Kurzfristig nutzt das den Medienhäuser durch höhere Verkaufszahlen. Wenn sich dadurch langfristig aber die Gesellschaft tatsächlich spaltet, gewinnen vor allem Rechtspopulisten. Und wenn sich immer extremere Regierungen bilden, kann potenziell auch die Pressefreiheit in Gefahr geraten. Was können Journalistinnen und Journalisten also tun, um gegen Polarisierung anzukämpfen?
Brücken bauen: Wie der Journalismus zur Depolarisierung beitragen kann
Der Journalismus kann allein dadurch schon der Polarisierung vorbeugen oder diese sogar begrenzen und reduzieren, indem er sich auf seine Kernkompetenzen konzentriert und diese stärkt. Die folgenden sechs Maßnahmen sind dabei essenziell.
- Über strukturelle Probleme berichten
Über die Mehrheitsmeinung wird seltener berichtet, da sie weniger Neuigkeitswert hat. Aber gerade dann bieten sich Hintergrundrecherchen an: Statt über die Notwendigkeit des Klimaschutzes zu diskutieren und damit zu suggerieren, dass dies überhaupt infrage steht, kann in jedem Fachressort von Wirtschaft bis Sport über Zusammenhänge und Hintergründe berichtet werden. „Es ist viel einfacher, über die Bauern zu schreiben, die mit Traktoren in die Hauptstadt fahren als über die Agrarpolitik der EU“, bringt es Depolarisierungsforscher Michael Brüggemann in einem taz-Interview (Bruhn, 2024) auf den Punkt. Strukturelle Recherchen erfordern Zeit und Ressourcen, aber geben polarisierenden Meinungen keine direkte Stimme.
- Faktenbasierte Berichterstattung
Es klingt selbstverständlich: Statt besonders emotional und aufmerksamkeitsheischend zu berichten oder Menschen in Gruppen einzuteilen („der AfD-Wähler“) sorgt seriöser und sachlicher Journalismus für weniger Polarisierung. Beiträge können noch immer Aufmerksamkeit erregen und spannend erzählt werden, wenn sie objektiv bleiben. Außerdem sollte zwischen Fakten und politischer Meinung unterschieden werden. Faktenchecks in den sozialen Medien sorgen erwiesenermaßen für weniger Polarisierung. Gerade nachdem diese auch von Meta abgeschafft wurden, ist die journalistische Überprüfung und Darstellung von Tatsachen umso wichtiger.
- Mehr Partizipation der Leserschaft
Der Journalismus kann Platz für die öffentliche Diskussion bieten. Gerade in Krisenzeiten wachsen die Sorgen und Unsicherheiten vieler Menschen, die sich Gehör und Anerkennung ihrer Bedürfnisse wünschen. Statt nur über politische Entscheidungen von oben zu berichten, können Medien gezielt auf die Perspektiven der Bürgerinnen und Bürger eingehen. Menschen können miteinander ins Gespräch kommen, wenn die Medien Räume für Meinungsaustausch schaffen.
- Menschen aus der Echokammer herausholen
Statt ein vereinfachtes „Wir gegen die“ zu vermitteln, sollten verschiedene Positionen dargestellt werden. Eine differenzierte Berichterstattung und größere Kooperation zwischen Ressorts kann helfen, Menschen andere Ansichten darzustellen. Wichtig dabei ist: Nicht allen Positionen muss gleich viel Raum gegeben werden, wenn es eine klare Mehrheitsmeinung gibt und die Faktenlage eindeutig ist. Die Forschung zeigt, dass die Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Informationen zu gemäßigteren Meinungen führen kann. Und das sogar dann, wenn die Inhalte auf den ersten Blick nichts mit der eigenen Ansicht zu tun haben.
- Gemeinsamkeiten betonen
Um Polarisierung aber wiederum nicht durch die bloße Vielfalt an Meinungen zu verstärken, sollte der Journalismus auch Gemeinsamkeiten betonen. Abweichende Meinungen sind ein Teil der Demokratie. Aber statt diese Unterschiede in den Vordergrund zu stellen, können Geschichten erzählt werden, die zeigen, was Menschen trotz Meinungsverschiedenheit vereint. Beispiele dafür sind lokale Kooperationen in Krisen, die unabhängig von politischen Einstellungen funktionieren. So können das Gefühl von Zusammenhalt und der konstruktive Austausch gefördert werden.
- Lösungsorientierter Journalismus
Eine lösungsorientierte Berichterstattung zeigt nicht nur Probleme und Krisen auf, sondern auch positive Entwicklungen und inspirierende Beispiele. Selten ist beispielsweise etwas über das Rekordwachstum der erneuerbaren Energien im letzten Jahr zu hören. Über die wissenschaftlich klar als unsinnvoll bezeichnete Rückkehr zur Atomkraft wird stattdessen überall diskutiert. Statt sich in Talkshows im Kreis zu drehen und Meinungen aufeinanderprallen zu lassen, könnten Menschen eingeladen werden, die zur Lösung etwas beizutragen haben. Außerdem kann es hilfreich sein, konstruktive Fragen zu stellen, um lösungsorientierter zu berichten.
Fazit
Die Medien haben die Macht, die Polarisierung zu beeinflussen. Der voranschreitende Prozess ist kein unvermeidlichen Schicksal: Journalistinnen und Journalisten prägen die Wahrnehmung der Menschen und können sie durch bewusste Entscheidungen in der Berichterstattung verändern. Ihre Rolle als „vierte Gewalt in der Demokratie“ sollten Medien ernst nehmen und sich darauf konzentrieren, zu informieren statt zu polarisieren.
Lesehinweis: Erfahren Sie in einem weiteren Fachjournalist-Beitrag der Autorin, wie sich unbewusste Denkfehler in der Berichterstattung vermeiden lassen.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Weitere Quellen:
- Bruhn, E. (2024). „Medien tragen zur Spaltung bei“. taz-Interview mit Michael Brüggemann vom 10.08.2024. https://taz.de/Wissenschaftler-ueber-Polarisierung/!6026340/
- Jost, J.T., Baldassarri, D.S., & Druckman, J.N. (2022). Cognitive-motivational mechanisms
of political polarization in social-communicative contexts. Nature Reviews Psychology. - Krause, L.K., & Gagné, J. (2023). Zukunft, Demokratie, Miteinander: Was die deutsche Gesellschaft nach einem Jahr Preiskrise umtreibt. More in Common.
https://www.moreincommon.de/media/3zblrdql/more_in_common_studie_preiskrise_zusammenhalt.pdf - Mau, S., Lux, T., & Westheuser, L. (2024). Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp.
Weiterführende Links:
- Bonn Institut: Praktiken für konstruktiven Diaglog im Journalismus
- 29 Antworten: Welchen Journalismus brauchen wir, um der Polarisierung etwas entgegenzusetzen?
- Beitrag von Deutschlandfunk Kultur: Wut im Internet: Die Filterblasen-Theorie ist überholt.
- Die Psychologie hinter der Polarisierung: Welche Rolle spielen Social Media? (ab Seite 34)
- Wie Journalismus mit polarisierten Debatten umgehen kann: Hamburger Impulse zur Depolarisierung medialer Debatten.

Foto: Evoto
Die Autorin Kathrin Boehme arbeitete bereits während ihres Studiums der Psychologie und Verhaltensforschung für Lokalredaktionen der Rheinischen Post. Als wissenschaftliche Assistentin forschte sie zunächst in Trier zu Stressauswirkungen auf das Gedächtnis und danach in Barcelona zu nachhaltigem Konsumverhalten. An der Deutschen Journalisten Akademie (DJA) spezialisierte sie sich auf Wissenschafts– und Klimajournalismus. Seit 2016 ist sie als freie Journalistin tätig.