„Niemand, der über Kriege und Konflikte berichtet, kommt ganz unversehrt zurück“

Ein Interview mit Carsten Stormer.
Carsten Stormer ist ein deutscher Journalist, Autor und Dokumentarfilmer, der viele Jahren aus Krisen- und Konfliktgebieten berichtet hat. Seine Filme zeichnen sich durch große Nähe zu den Protagonisten und eindringliche Bilder aus. Im Interview mit dem fachjournalist stellt der seit 2008 in Manila lebende Absolvent der Zeitenspiegel Reportageschule die Herausforderungen bei seiner Arbeit dar und gibt Tipps, auf was sich Newcomer einstellen müssen.
Es ist bekannt, dass Reportagen aus Krisengebieten bei den Berichterstattenden Spuren hinterlassen. Sie haben in der Vergangenheit Ihre traumatischen Belastungen als Kriegsberichterstatter öffentlich gemacht. Haben Sie den Eindruck, dass es heute mehr Hilfsangebote von den Redaktionen beziehungsweise Auftraggebern gibt oder ist eine Unterstützung von in Krisenregionen tätigen Journalistinnen und Journalisten noch immer nicht im Berufsalltag angekommen?
Da ich Freiberufler bin, muss ich mich um diese Dinge selbst kümmern. Aber ich bin auch Mitglied bei der Reportergemeinschaft Zeitenspiegel, das ist eine Art Solidargemeinschaft, in der wir uns gegenseitig unterstützen. Das funktioniert erstaunlicherweise seit 40 Jahren. Ich tausche mich auch mit Kollegen und Freunden aus – so viele gibt es ja nicht, die diese Art Journalismus betreiben.
Während meiner Einsätze in Syrien habe ich mir Hilfe bei einer vom DART-Center für Journalismus und Trauma empfohlenen Psychologin geholt. Die Kosten wurden von Zeitenspiegel erstattet. Mir wurde damals auch gesagt, dass das Anerkennen dieser posttraumatischen Belastungsstörung – PTBS – wichtig ist und dass man darüber reden sollte. Also dieses Problem öffentlich machen, darüber reden mit Kollegen und Familie. Daran halte ich mich.
Es beeinträchtigt mein Leben kaum, aber diese PTBS verschwindet auch nicht wieder so einfach wie ein Schnupfen, sondern schlummert für den Rest des Lebens unter der Oberfläche und sagt manchmal: „Hallo.“ Ich habe gelernt, damit umzugehen. Niemand, der über Kriege und Konflikte berichtet, kommt da ganz unversehrt zurück. Das war mir immer bewusst.
Inzwischen habe ich aber meine Berichterstattung verändert – weniger Frontberichterstattung, weniger Lebensgefahr – hauptsächlich wegen meines Sohns. Dafür mache ich längere, ausgeruhte Filmprojekte; zum Beispiel aus der Ukraine, über den philippinischen Drogenkrieg oder eine Adlerjägerin in der Mongolei. Das ist eine Arbeit, die mich erfüllt.
Es beeinträchtigt mein Leben kaum, aber diese PTBS verschwindet auch nicht wieder so einfach wie ein Schnupfen, sondern schlummert für den Rest des Lebens unter der Oberfläche und sagt manchmal: „Hallo.“
Wie finden Sie den besonderen Zugang zu Ihren Protagonisten in den Einsatzgebieten und wie sichern Sie sich bei schwierigen Aufträgen vor Ort ab? Welche Basics sollten Kriegsberichterstatter beherrschen, um sich effektiv schützen zu können?
Bei den Arbeiten, die ich mache, ist sehr viel Vorrecherche nötig. Man spricht mit Kollegen und Local Producern oder Fixern vor Ort und man liest auch viel vorab. Gerade die Menschen, die dort leben, die sich auskennen und die Kontakte haben, sind sehr wichtig bei der Planung. Ich erkläre den Kollegen dann meine Story und man versucht gemeinsam, einen Zugang zu den Protagonisten zu finden. Da muss man sich dann behutsam vorarbeiten und auf die Erlaubnis warten, deren Leben abzubilden. Das Gleiche gilt auch für die Sicherungsmaßnahmen vor Ort, denn egal, was man dort macht: Es ist alles nicht ungefährlich.
Ich habe hier auf den Philippinen zum Beispiel in den letzten zehn Jahren den Drogenkrieg dokumentiert. Da ist natürlich auch immer etwas Angst dabei, wenn man kritisch über eine autokratische Regierung berichtet. Immer, wenn neben mir ein Motorrad mit zwei Personen gehalten hat, wurde mir mulmig zumute. Diese Killerteams auf dem Motorrad sind hier sehr verbreitet, auf diese Art geschehen die meisten Morde. Da wird man vorsichtig und macht sich so seine Gedanken.
Zu dem Thema „Basics“ bin ich vielleicht der falsche Ansprechpartner. Als ich im Jahr 2004 nach Afghanistan ging, bin ich in dem Land zunächst als Anhalter umhergereist und später dann völlig blauäugig mit amerikanischen Soldaten an die Front gefahren. Als es dann zu Gefechten kam, wusste ich erst gar nicht, was ich tun sollte. Das war alles so ein Learning-by-Doing-Prozess bei mir.
Ich habe hier auf den Philippinen zum Beispiel in den letzten zehn Jahren den Drogenkrieg dokumentiert. Da ist natürlich auch immer etwas Angst dabei, wenn man kritisch über eine autokratische Regierung berichtet.
Heute, mit meiner jetzigen Erfahrung und im etwas fortgeschrittenen Alter, muss ich sagen: Wägt das Risiko genau ab. Nur: Wie soll man Erfahrung sammeln, wenn man nicht in diese Krisengebiete geht? Das Beste ist natürlich, wenn man einen erfahrenen Mentor hat, der einen begleitet, oder eine Redaktion, die sich für einen einsetzt und mit der man ständig in Kontakt ist. Ich hatte solches Glück mit dem Fotografen Uli Reinhardt, dem Gründer von Zeitenspiegel.
Sie arbeiten unter anderem auch als Kameramann, wie bei der Dokumentation „Die vergessenen Tempel Tibets“ der Neuen Zürcher Zeitung, NZZ. Wo sehen Sie Ihren beruflichen Schwerpunkt und mit welcher Technik sind Sie unterwegs?
Mein beruflicher Schwerpunkt: Ich mache Filme. Alles aus einer Hand: Ich bin der Kameramann, mache die Regie, fliege die Drohne, schreibe die Skripts, bringe Ideen ein und bereite alles vor. Dazu gehören die Pressebilder und die Texte.
Ich habe mein eigenes Equipment – eine hochwertige Sony Kamera, Drohne, Mikrofone – und reise damit zu den Projektorten. Das ist heute alles viel kompakter und leichter geworden, sodass man professionell arbeiten kann.
Lohnt es sich noch, als Schreiber zu arbeiten oder sind die Honorare als Filmemacher einfach lukrativer?
Bevor ich Filme gemacht habe, habe ich freiberuflich für Printmedien geschrieben. Das lohnt sich absolut nicht mehr, selbst wenn man regelmäßig für Medienhäuser wie SPIEGEL oder GEO schreiben würde. Als freier Journalist kann man davon nicht leben, keine Familie ernähren. Die Honorare für freie Printjournalisten sind so miserabel, dass man wirklich niemanden zu diesem Schritt ermutigen sollte.
Die Honorare als Filmemacher sind besser, aber der Zeitaufwand ist natürlich auch deutlich höher. Auch die Anschaffung der technischen Ausrüstung kostet erst einmal viel Geld. Als Solo-Filmer kann ich von den Honoraren ganz gut leben und durch die Solidargemeinschaft von Zeitenspiegel habe ich ein soziales und finanzielles Fallnetz.
Aber ich sitze mitunter auch monatelang an einem Film, das ist einfach so. Zudem ist die Vorrecherche zeitaufwendig. Doch ich habe auch Glück gehabt, dass ich rechtzeitig in dieser Medienbranche Fuß fassen konnte und diese Arbeit mit sehr großer Leidenschaft ausüben kann.
Als Freiberufler sind Sie abhängig von Redaktionen und Auftraggebern. Mit welchen Kunden haben Sie in der Vergangenheit gern gearbeitet und wie gehen Sie in die Akquise von neuen Aufträgen?
Da bin ich sehr privilegiert, denn ich setze fast ausschließlich Ideen um, die ich mir selbst ausgesucht habe. Das heißt, ich erzähle Geschichten, die mir am Herzen liegen, reise in Regionen, die ich besuchen möchte, und treffe interessante Menschen. Dieser gesamte kreative und eigenverantwortliche Prozess macht mir ausgesprochen Spaß.
Als Solo-Filmer denke ich, dass sich so besser Nähe und Intimität wahren lassen, denn ein großes Team würde wohl ganz anders wahrgenommen werden. Man kann auch schlecht mit einem großen Team vier Wochen in einem Zelt bei einer mongolischen Familie leben oder Angehörige von Opfern des Drogenkriegs in einem Slum von Manila befragen. Das funktioniert einfach nicht.
Ich arbeite oft und gerne für ARTE und NZZ-Format, weil diese Sender mir viel Vertrauen entgegenbringen und große kreative Freiheiten lassen. Diese öffentlich-rechtlichen Kanäle ermöglichen das Filmemachen von Dokus, die sonst wahrscheinlich nirgends sonst gezeigt werden. Meist arbeite ich mit deutschen Produktionsfirmen zusammen.
Allerdings sind mir nun zwei geplante Filme weggebrochen und ich muss erst einmal wieder Pitches schreiben und meinen Kunden anbieten, was eine sehr mühselige Aufgabe ist. Da sitze ich wochenlang dran und kann nur hoffen, dass sich ein neuer Auftrag ergibt. Aber ich bin da ganz zuversichtlich, dass davon etwas funktionieren wird.
Ich arbeite oft und gerne für ARTE und NZZ-Format, weil diese Sender mir viel Vertrauen entgegenbringen und große kreative Freiheiten lassen.
Sind Sie auch für philippinische Medienhäuser tätig?
Für philippinische Medienhäuser bin ich nicht tätig, weil es hier kaum Geld für aufwendige Dokus oder Reportagen gibt. Ich bewundere dabei meine philippinischen Kollegen, die hier wirklich eine hervorragende Arbeit unter sehr schwierigen Bedingungen leisten.
Was sehen Sie rückblickend als Ihr größtes berufliches Highlight und welche Fehler hätten Sie lieber vermieden?
Das ist etwas schwierig zu beantworten. Ein Filmprojekt über die Mongolei hat mich sehr lange beschäftigt – und als dieses dann endlich in der Schweiz gesendet wurde, war ich doch emotional aufgewühlt. Und mit Sicherheit auch das Filmprojekt „Die vergessenen Tempel Tibets“, weil ich vor 14 Jahren mal etwas darüber im GEO gelesen hatte und seitdem mit den Protagonisten über ein Filmprojekt in Kontakt stand. Das hat letztes Jahr endlich geklappt und ich bin sehr glücklich mit dem Ergebnis.
Aber ich habe auch hier auf den Philippinen gemeinsam mit meinen philippinischen Kollegen jahrelang den Drogenkrieg dokumentiert. Das macht mich stolz, dass wir standhaft geblieben sind und Haltung gezeigt haben, als wir als Journalisten massiv angefeindet wurden und das Medieninteresse abgeflaut ist. Dass der ehemalige Präsident Duterte sich heute wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten muss, hat auch mit dieser Berichterstattung zu tun. Ich habe außerdem jahrelang den Bürgerkrieg in Syrien und den Kampf gegen den IS begleitet. Das ist für mich der Sinn und Zweck von Journalismus: Zeigen, was ist.
Natürlich habe ich viele Fehler gemacht, bin oft zu großen Risiken eingegangen, hatte oft mehr Glück als Verstand. Dieser Beruf ist ebenso fordernd wie erfüllend. Man kann sich das Leben auch einfacher gestalten, dann wäre es nicht so aufregend und bereichernd gewesen. Aber natürlich hat mich jeder einzelne Fehler dazu getrieben, weiter an mir zu arbeiten und zu lernen.
Das ist für mich der Sinn und Zweck von Journalismus: Zeigen, was ist.
Ihr selbst gewählter Lebensmittelpunkt liegt in Manila auf den Philippinen – was reizt Sie an diesem Land? Es hatte doch in der Vergangenheit immer wieder Probleme mit der Bedrohung oder gar Tötung von kritischen Journalisten. Wie beurteilen Sie aktuell die Freiheit der Berichterstattung vor Ort? Hat sich die Lage nach dem Abgang von Präsident Duterte verbessert?
Ich lebe seit knapp 18 Jahren hier und die Philippinen waren gut zu mir. Es ist ein aufregendes, wunderschönes, gepeinigtes Land mit wunderbaren Menschen – und Journalismus hat hier tatsächlich noch eine Bedeutung: Es geht um etwas – hier muss man kämpfen, was riskieren. Tatsächlich sind die Philippinen immer noch eines der gefährlichsten Länder für Journalisten. Aber unter der jetzigen Regierung hat sich der Rechtsstaat wieder ein wenig erholt, die Pressefreiheit hat sich verbessert. Ich kenne eigentlich kein anderes Land, in dem man als Journalist so frei und unbehelligt arbeiten kann wie hier auf den Philippinen.
Ich lebe seit knapp 18 Jahren hier und die Philippinen waren gut zu mir. Es ist ein aufregendes, wunderschönes, gepeinigtes Land mit wunderbaren Menschen – und Journalismus hat hier tatsächlich noch eine Bedeutung: Es geht um etwas – hier muss man kämpfen, was riskieren.
Im Oktober zeigt ARTE meinen neuen Film über philippinische Literatur als Widerstand gegen Diktaturen. Es ist eine Art Liebeserklärung an das Land und die Menschen, die mir eine zweite Heimat geschenkt haben.
Die südliche Insel Mindanao steht seit Jahren im Fokus als Hochburg einer islamistischen Szene. 2017 gab es einen blutigen Häuserkampf in der Stadt Marawi, der von der philippinischen Armee erst nach mehreren Monaten niedergeschlagen werden konnte. Wie beurteilen Sie derzeit die Terrorgefahr auf den Philippinen?
Mindanao ist eine meiner Lieblingsinseln. Ich bin oft dort unterwegs, Anfang des Jahres in der Region Tawi-Tawi im Süden. Das war bis vor wenigen Jahren noch Abu-Sayaf-Gebiet – das ist die Terrorgruppe, die unter anderem deutsche Segler entführt und geköpft hatte. Aber es brechen nicht mehr wie früher Gewalttätigkeiten aus. Das hat sich jetzt alles sehr deutlich verbessert. Das hat auch damit zu tun, dass die Friedensverhandlungen zwischen islamischen Separatisten und der Regierung Früchte getragen haben. Mindanao ist in den letzten 20 Jahren deutlich sicherer geworden, auch wenn es immer noch Gegenden gibt, in denen Reisewarnungen ausgesprochen werden.
Ich habe den Häuserkampf in Marawi miterlebt, war seinerzeit mehrfach dort, hatte damals auch eine lange GEO-Geschichte darüber gemacht, wie hier islamistische Kämpfer wieder in die Gesellschaft integriert werden. Die Terrorgefahr ist auch hier inzwischen deutlich geringer geworden, kann man aktuell sagen. Anfang des Jahres habe ich in der Provinz Tawi-Tawi gedreht, die bis vor einigen Jahren noch No-Go Gebiet war.
Was raten Sie jungen Journalistinnen und Journalisten, die einen Einstieg in die freiberufliche Kriegsberichterstattung oder den Auslandsjournalismus suchen? Welche Fehler haben Sie gemacht, aus denen angehende Korrespondenten und Krisenreporter lernen könnten?
Ich rate jungen, freiberuflichen Journalisten: Tut es nicht! Ich finde, man kann heutzutage junge Menschen nicht mehr darin bestärken, in diesen Beruf einzusteigen. Die Unsicherheiten sind zu groß, die Bezahlung ist zu schlecht, der Arbeitsaufwand steht in keinem Verhältnis. Anders ist es bei einer Festanstellung als Korrespondent bei den öffentlich-rechtlichen Sendern oder im Printbereich.
Trotzdem finde ich den deutschen Journalismus nach wie vor sehr gut. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist ein Segen – für die Gesellschaft ebenso wie für den Journalismus. Aber als freier Journalist hat man ständig Angst, dass der jetzige Auftrag auch immer der letzte sein könnte. Man muss immer wieder von vorn anfangen und Pitches anbieten sowie Klinken putzen. Das ist mühselig.
Man merkt, dass Produktionsfirmen und Sender um Budgets kämpfen. Wer mithalten will, muss immer mehr leisten – oftmals in kürzerer Zeit: weniger Drehtage, weniger Schnitttage, kleinere Budgets. Manchmal stecke ich Teile meines Honorars in die Produktion, weil das Budget überzogen ist. Da muss man sich drauf einstellen.
Man merkt, dass Produktionsfirmen und Sender um Budgets kämpfen. Wer mithalten will, muss immer mehr leisten – oftmals in kürzerer Zeit: weniger Drehtage, weniger Schnitttage, kleinere Budgets.
Für mich ist das in Ordnung. Es ist für mich immer noch der schönste Beruf, allerdings in einem Business, das immer schwieriger wird. Und mein Weg war halt nur für mich persönlich gut, das ist keine Blaupause für Nachahmer. Das war oft genug ein Drahtseilakt ohne Fallnetz, ohne festen Wohnsitz oder Familie. Dieses Vagabundenleben war zwar sehr bereichernd, aber auch herausfordernd. Heute habe ich meinen Platz in einer Nische gefunden. Ich mache diesen Beruf gerne, wünschte mir aber, dass es etwas mehr Mut in der Branche geben würde.
Carsten Stormer, Jahrgang 1973, ist ein deutscher Journalist, Autor und Dokumentarfilmer. Er arbeitete bei der Phnom Penh Post in Kambodscha, bei der Myanmar Times in Myanmar. Und studierte Journalistik in Bremen und am Indian Institute of Technology (IIT) in Chennai, Indien. Nach dem Studium absolvierte er den ersten Jahrgang der Zeitenspiegel Reportageschule. Seit 2008 lebt er mit seiner Familie, einem Dackel und zwei Katzen in Manila auf den Philippinen. Carsten Stormer filmt u.a. für ARTE, ARD, ZDF, NZZ-Format. Seine Reportagen erscheinen u. a. in Der Spiegel, GEO, Die Zeit, Cicero und der NZZ am Sonntag.