Desinformation im NRW-Wahlkampf: Ein Blick in den Werkzeugkasten der Meinungsmanipulation
Eine Analyse der Chats in den sozialen Medien während des Wahlkampfs in NRW zeigt: Viele „Meinungstrends“ wurden von Fake Accounts erzeugt, hinter denen keine realen Personen stehen. Sie verbreiten ihre Narrative und Verschwörungserzählungen und erzeugen den Anschein von Relevanz, indem sie das koordiniert und in großem Maßstab tun. Unser Gastautor Steffen Konrath, Fachbeiratsmitglied des DFJV, stellt die Ergebnisse der Untersuchung von evAI Intelligence, dem Swiss Disinformation Research Center (SDRC) und dem Technologiepartner Cyabra vor und zeigt auf, wie durch gesteuerte Aktionen von Fake Accounts der öffentliche Diskurs beeinflusst wird.
Fake Accounts als Wahlkampfhelfer
Bisher konnten Medien und Politikprofis zwar Meinungstrends erkennen, aber nicht, wie sehr Fake Accounts – Nutzer, die keine Personen sind – den öffentlichen Diskurs bestimmen. Tatsächlich gibt es mehr als 100 Kriterien, anhand derer Cyabra, ein Desinformation-Erkennungssystem, reale und fiktive „Personen“ unterscheidet. Diese Kriterien reichen von der Ähnlichkeit der Inhalte (gepostet vom selben oder von mehreren Konten), dem Alter des Kontos bzw. Publikationszeitpunkts des Posts über die Frequenz und die Anzahl an genutzten Sprachen bis hin zur Qualität des Auftritts (Fehlen von Profilbild, Biografie etc.). Sind Fake Accounts und ihre Narrative identifiziert, können Desinformationsspezialisten heute die Übergänge von klassischen zu sozialen Medien evaluieren, konzertierte Aktionen erkennen und feststellen, welche Narrative sich gegenüberstehen.
Fake Accounts haben die Aufgabe, ausgesuchte Inhalte in die Debatten zu tragen, Narrative zu verstärken und den Eindruck einer breiten öffentlichen Meinung zu erwecken. Das erfolgt durch die Abstimmung ihrer Posts und die Synchronisation von Aktionen.
Das Studiendesign
Am 14. September 2025 war in Nordrhein-Westfalen (NRW) Kommunalwahltag. Aus diesem Anlass hat unser Desinformationsteam aus Mitgliedern der an der Studie beteiligten Partner evAI, SDRC und Cyabra den Kommunalwahlkampf genauer analysiert.
Datengrundlage sind Posts auf sozialen Medien, namentlich X (das frühere Twitter), Facebook und TikTok. Als Filter für die Posts vereinbarten wir den direkten Bezug zur Kommunalwahl. Dazu gehörten alle Beiträge mit #kommunalwahlnrw, #wahlnrw, nrw elections und ähnlichen Schlagworten in den Inhalten.
Aus den 7.312 Beiträgen von 4.083 Accounts (Fake- und reale Personen) im Zeitraum eines Monats konnten insgesamt vier Cluster ermitteln werden, die durch ihre thematische Schwerpunktsetzung voneinander unterscheidbar sind. Cluster sind hier Themengruppen, die einen bestimmten Sachverhalt bespielen und unterschiedlicher politischer Couleur sein können.
Wenn auch der tatsächliche (politische) Urheber der Inhalte nicht offensichtlich ist oder sich nicht selbst zu erkennen gibt, lässt sich trotzdem anhand der ausgesuchten Stories eine politische Richtung ableiten. Die Bandbreite der Themen reicht bei den Clustern daher von Pro-AfD-Narrativen bis zu Erzählmustern härtester verbaler Gegner. Gemeinsam ist den Aktivitäten, dass sie stark polarisieren und damit den Wahlkampfdiskurs und das Klima für Gespräche weiter aufheizen.
Kommunalwahlen NRW – die Themencluster
Der Diskurs rund um die Kommunalwahl in NRW wurde von vier großen Narrativen, die jeweils einem Themencluster entsprechen, geprägt. Sie wurden in sozialen Netzwerken nicht nur diskutiert, sondern durch koordinierte Interaktionen verstärkt um so breitere Zustimmung zu den Meinungen zu simulieren.
Die vier Themen waren (s. Bild):
- Cluster 1: „NRW in der Krise – Migration, wirtschaftlicher Niedergang und Staatsversagen“
- Cluster 2: „Polarisierung und der Aufstieg der AfD“
- Cluster 3: „Die plötzlichen Tode von AfD-Kandidaten“
- Cluster 4: „Anti-Establishment-Angriffe“ auf CDU (Massenmigration, woke), SPD („gescheiterte Klasse“, „Migrationspartei“) und Grüne („schädlich für die Gesellschaft“, ideologische Belastung)
Cluster 1: „NRW in der Krise – Migration, wirtschaftlicher Niedergang und Staatsversagen“
Im ersten Themencluster wurde Nordrhein-Westfalen als Land in einer tiefen Krise beschrieben. Drei miteinander verknüpfte Motive dominierten dabei: Migration, ökonomische Sorgen und ein generelles Misstrauen in die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen.
- Migration als Hauptthema
Beiträge sprachen von „illegaler Masseneinwanderung“ und warfen vor allem CDU und Grünen vor, unkontrollierte Zuwanderung zu ermöglichen. Schlagworte wie „Remigration“ oder Forderungen nach verschärften Abschiebungen tauchten immer wieder auf und wurden in direktem Bezug zur Wahl genutzt. Migration wurde hier als Sicherheitsrisiko inszeniert und zugleich als Beleg für politisches Versagen präsentiert. - Ökonomische Unsicherheit
Parallel wurde ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Lage gezeichnet: Jobverluste, Werksschließungen und ein drohender Niedergang der Industrie in NRW waren die Fokusthemen. Viele Stimmen äußerten die Überzeugung, dass Chancen schwinden und politische Entscheidungsträger es versäumt hätten, Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wachstum zu schaffen. - Kritik an Regierung und Institutionen
Schließlich richtete sich die Debatte auch gegen staatliche Institutionen und die politische Führung insgesamt. Ihr wurde mangelnde Vision, fehlende Kompetenz und fehlende Verantwortung attestiert. Damit verfestigt sich in diesem Cluster die Erzählung, NRW befinde sich auf einem falschen Kurs – verursacht durch ein schwaches und orientierungsloses Establishment.
Cluster 2: „Polarisierung und der Aufstieg der AfD“
Das zweite Themencluster zeigt, wie die AfD im digitalen Wahlkampf zugleich Mobilisierungsfaktor für ihre Anhänger und Angriffsziel für ihre Gegner ist. Es war in dieser Gruppe mehr als nur ein Lager aktiv bei der Themensetzung beteiligt.
- Wachsende Präsenz der AfD
In vielen Beiträgen wurde die Partei als zunehmend einflussreich in NRW beschrieben. Ihr migrationskritisches Profil stand klar im Vordergrund und sprach vor allem Wählerinnen und Wähler an, die sich von den etablierten Parteien enttäuscht zeigen. Slogans wie „AfD wählen für Veränderung“ oder die Darstellung als „Stimme der Vernunft“ finden sich häufig, insbesondere in Regionen, die als lokale Hochburgen gelten. - Knotenpunkt der Polarisierung
Gleichzeitig bildet die AfD den zentralen Gegenpol für Kritik. Stimmen aus dem linken und bürgerlichen Spektrum brandmarkten die Partei regelmäßig als rechtsextrem und stellten sie als Bedrohung für demokratische Grundwerte dar. Damit wurde sie zum Kristallisationspunkt einer polarisierenden Debatte, in der Zustimmung und Ablehnung einander wechselseitig verstärkten.
Cluster 3: „Die plötzlichen Tode von AfD-Kandidaten“
Ein besonders dominantes Narrativ im digitalen Diskurs entstand durch die unerwarteten Todesfälle mehrerer Kandidaten, die meisten von der AfD, in den Wochen vor der Wahl. Die Stellungnahmen von Behörden und Medien waren vorsichtig, abwägend und gaben keinen Anlass zur besonderen Sorge oder Hinweis auf aussergewöhnliche Ereignisse. Die Todesfälle wurden dennoch zum viralen Brennpunkt, Ängste wurden bespielt und Verschwörungstheorien kursierten.
- „Statistisch unmöglich“
Einige Stimmen beschrieben die Häufung der Todesfälle regelmäßig als „statistisch unmöglich“. Der Hinweis, dass sieben Kandidaten in kurzer Zeit verstorben seien, wurde als Beleg für Manipulation, als Zeichen der Toxizität des Anti-AfD Klimas gedeutet, der damit eine Schwelle überschritten hätte. Diesen Stimmen standen andere gegenüber, die einen Gewalthintergrund für unwahrscheinlich hielten. Viele Argumente waren keine Belege, sondern zielten darauf ab, den Verdacht zu verstärken. - Vom Zufall zur Verschwörung
Die Ereignisse galten in einigen Beiträgen nicht als tragischer Zufall, sondern als angeblicher Nachweis einer gezielten Unterdrückung. In dieser Lesart sollen „die Kräfte des Establishments“ versucht haben, die AfD durch gezielte Schwächung an ihrem Aufstieg zu hindern. - Teil einer größeren Verfolgungserzählung
Die plötzlichen Tode fügten sich so in ein breiteres Narrativ der Verfolgung ein. Formulierungen, die von einem „Auslöschen“ der AfD im politischen Raum sprachen, verstärkten die Opferrolle der Partei und vertieften das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Medien.
Cluster 4: „Anti-Establishment-Angriffe auf CDU, SPD und Grüne“
Ein weiteres, dominantes Cluster im Online-Diskurs rund um die NRW-Wahl 2025 richtete sich gegen die etablierten Parteien. CDU, SPD und Grüne wurden als abgehoben, machtlos oder gar direkt verantwortlich für den Niedergang des Landes beschrieben.
- CDU im Fokus der Kritik
Die Christdemokraten wurden in vielen Beiträgen als schwach und „woke“ charakterisiert. Ihnen wurde vorgeworfen, Masseneinwanderung zu ermöglichen und traditionelle Werte aufgegeben zu haben. Häufig wurde die CDU zudem als kaum noch unterscheidbar von linken Parteien dargestellt – ein Zeichen ihrer angeblich schwindenden Relevanz. - Die Grünen als ideologische Belastung
Die Grünen erscheinen in diesem Cluster als abgehoben und ideologisch getrieben. Ihnen wurde nachgesagt, Politik „an den Bürgern vorbei“ zu machen und vor allem Belastungen für den Alltag der Menschen zu schaffen. Die Partei wurde als elitär beschrieben, mehr an Idealen als an praktischer Regierungsarbeit interessiert. - SPD als Teil der „gescheiterten Klasse“
Weniger stark einzeln angegriffen wird die SPD. Sie wurde meist gemeinsam mit CDU und Grünen als Teil einer politischen Elite gefasst, die das Land in die Krise geführt habe. Auch sie galt damit als Symbol für ein Establishment, dem in diesem Diskurs grundlegende Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern abgesprochen wurde.
Narrative der Fake Accounts
Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung betrifft die gezielte Verstärkung AfD-naher Inhalte durch Fake Accounts. Diese waren vermutlich automatisiert oder bewusst als Fake Accounts angelegt und dienten dazu, Pro-AfD-Narrative massenhaft in die Online-Debatte einzuspeisen.
- Heilsbringer-Narrativ
Die AfD wurde durchweg als einzige Rettung vor dem Niedergang Nordrhein-Westfalens inszeniert – eine Art „Heilsbringer“-Erzählung. Beiträge betonten, nur die AfD könne Ordnung wiederherstellen, Migration eindämmen und den wirtschaftlichen sowie sozialen Abstieg umkehren. - Mobilisierungseffekt
Wahlkampforientierte Slogans wie „Der Westen wird blau“ sollten einen Mitläufer-Effekt erzeugen: Wer sich auf der Seite des vermeintlichen Gewinners wähnt, ist eher bereit, seine Stimme entsprechend abzugeben. - Angst- und Krisenrhetorik
Die Kommunikation setzte stark auf emotionale Trigger. Gewaltvorfälle in NRW wurden aufgegriffen, zugespitzt oder aus dem Zusammenhang gerissen, um staatliches Versagen zu suggerieren. Gleichzeitig wurde Unsicherheit mit der aktuellen Regierung verknüpft, während Sicherheit exklusiv mit der AfD assoziiert wurde. - Psychologische Taktiken
Durch diese gezielte Angstkommunikation sollte die Attraktivität der AfD gesteigert werden. Die dauerhafte Betonung von Krise und Bedrohung schuf eine Atmosphäre, in der extreme Positionen normalisiert erscheinen.
Die Folgen liegen auf der Hand: Manipulierte Inhalte verzerren den öffentlichen Diskurs, erschweren die Orientierung für Wählerinnen und Wähler und erhöhen die Verwundbarkeit sozialer Plattformen gegenüber orchestrierten Angriffen. Für demokratische Prozesse bedeutet das eine erhebliche Belastung – und für die Gesellschaft die Notwendigkeit, Medienkompetenz und Resilienz gegenüber Desinformation zu stärken.
Polarisierung durch orchestrierte Narrative
Die Analyse zeigt, wie verschiedene Strömungen im digitalen Diskurs rund um die NRW-Wahl ineinandergreifen. Erzählungen von Migration, wirtschaftlichem Niedergang und staatlichem Versagen bieten den Nährboden für eine breite anti-establishment Rhetorik. In diesem Umfeld profiliert sich die AfD als Sammelbecken für Unzufriedene, aber als Projektionsfläche für harte Kritik etablierter Kräfte. Diese Strategierichtungen verstärken das Narrativ „Wir gegen die da oben“.
Medien und AfD-Reaktionen
Die plötzlichen Todesfälle von AfD-Kandidaten beflügelten diese polarisierende Dynamik erheblich. Während Polizei und Medien keine Hinweise auf einen politischen Hintergrund sahen, entwickelten sich in den sozialen Netzwerken rasch Spekulationen.
In einem WDR-Bericht wird der AfD-Landeschef Martin Vincentz mit der Aussage zitiert, es gebe „keine Hinweise auf unnatürliche Todesfälle“. Dies jedoch verknüpfte er gleichzeitig mit dem Vorwurf, der „rücksichtslose Kampf gegen die AfD“ habe die Vorstellung von politischem Mord überhaupt erst möglich gemacht. Andere leitende Parteiangehörige wie sein Stellvertreter, Kay Gottschalk, mahnten laut krone.at zur Vorsicht, wollten aber eine Prüfung der Fälle nicht ausschließen. Das ist ein Signal, dass das Narrativ des Anschlags gegen die Partei im Raum stehen bleiben soll und sich kein Parteivertreter von der Gewaltthese distanzieren wird.
Rechte Medien wie das Compact-Magazin gehen weiter und veröffentlichen eine frei erfundene Aussage, nach der Alice Weidel die Todesfälle als „Weckruf“ bezeichnet habe. Solche Falschzuschreibungen fügen sich nahtlos in das Muster einer Verschwörungserzählung rund um verstorbenen Kandidaten.
Gemeinsames Narrativ: „Wir gegen die da oben“
Schon seit Jahren steht die Erzählung „Wir gegen die da oben“ im Kontext der AfD im Raum, die sich entsprechend inszeniert. Verstärkt wird dieses Bild durch die angeblich mysteriösen Todesfälle. Dennoch ist die Aussage nicht exklusiv politisch rechts, sondern eine allgemeine Form der sozialen Abgrenzung einer Gruppe gegen einen äußeren Feind, gegen den man sich wehren muss. Der so aufgebaute Schutzwall mit der Erzählung einer permanenten Bedrohung überdeckt interne Unterschiede und die eigentliche Heterogenität innerhalb der Partei. Es stiftet ein Gefühl von Zusammenhalt und dient als Auffang- und Sammelbecken für alle, die sich nicht verstanden fühlen.
Folgen für den Wahlkampf
Für die übrigen Parteien hat das Narrativ „Wir gegen die da oben“ konkrete Folgen. Wahlkämpfe leben von Abgrenzung, doch diese sollte nicht in gesellschaftliche Spaltung münden. Polarisierende Themen wie Migration oder Energie bergen mittlerweile die Gefahr, in toxische Online-Debatten zu münden. Parteien, die die AfD nicht stärken wollen, indem sie das Narrativ bedienen, sind gezwungen, auf weniger polarisierende Themen wie etwa Wohnen bzw. Miete auszuweichen. Damit geben sie der AfD den Raum, in den traditionellen Themen, jetzt zusehends auch in der Wirtschaft, Fuß zu fassen.
Es zeigt die Politik im Dilemma: Im politischen Wahlkampf sollten Aussagen, die „Wir gegen die da oben“ verstärken, vermieden werden. Die Realität der Kampagnen in sozialen Medien sieht in Wahrheit anders aus. Der Angriff auf die AfD als Partei wird diesen Glaubenssatz eher verstärken und noch mehr Unzufriedene abholen, die sich ein Ende des Bisherigen wünschen. Ein echter Wandel in Deutschland ist medial in den letzten Wochen und Monaten seit der Bundestagswahl nicht spürbar. Der Skandal um Jens Spahn, die Streitigkeiten zwischen SPD und CDU, sowie Äußerungen bzw. Positionen von Bundeskanzler Friedrich Mertz lassen die Änderungsperspektive am Horizont verschwinden.
Fazit
Der digitale Wahlkampf in NRW belegt, wie hochgradig anfällig für Manipulation auch Kommunalwahlen sind. Fake Accounts sind kein Randphänomen, sondern ein strategisches Werkzeug, das öffentliche Meinung formt, Narrative verschiebt und Vertrauen in demokratische Institutionen untergräbt. Wir können sie aber messen, ihre Wirkmechanismen entlarven und die Narrative offenlegen.
Es bleibt aber ein Aufruf an die Medien in der Berichterstattung sowie an die Politik bei ihrer strategischen Ausrichtung das Wissen tatsächlich umzusetzen, das uns die Desinformationsanalysen zur Verfügung stellen.
Hörtipp: Steffen Konrath spricht im „Medienmagazin“ von radio eins (13.09.2025, 27:39) über die Ergebnisse seiner Desinformationsforschung zur NRW-Wahl.