„Verengter Meinungskorridor“ zum Nahost-Konflikt in Redaktionen.
Journalistinnen und Journalisten waren 2024 in Deutschland mehr als doppelt so oft von Gewalt betroffen als noch im Vorjahr – das belegt die aktuelle „Nahaufnahme Deutschland“ von Reporter ohne Grenzen (RSF). Demnach gab es im letzten Jahr insgesamt 89 Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, 2023 wurden 41 dokumentiert. Am häufigsten waren Attacken durch Tritte, Schläge oder mit Gegenständen. Die Angriffe fanden überwiegend auf politischen Versammlungen wie Demonstrationen, Parteiveranstaltungen oder Protesten statt; die meisten davon mit großem Abstand in Berlin (49), gefolgt von Bayern (8) und Sachsen (8).
Demonstrationen weiterhin besonders gefährlich
Besonders gefährlich für Medienschaffende war es bei Demonstrationen, die den Nahost-Konflikt betrafen: Allein in Berlin wurden 40 Übergriffe auf Demonstrationen gezählt, die dem polarisierenden Konflikt zugerechnet werden; meist bei palästinasolidarischen Protesten. Auch zu Morddrohungen sei es gekommen. Besonders brutale Angriffe am Rande von Protesten gab es auch in Leipzig und Duisburg. Darüber hinaus habe RSF auch Meldungen von gewaltsamen Übergriffen auf Medienschaffende durch die Polizei erhalten, diese seien jedoch oft nicht verifizierbar gewesen. Vier von jenen sechs belegten fanden ebenso im Kontext von Nahost-Demonstrationen in Berlin statt.
Aus dem rechten Spektrum kam es 2024 zudem zu 21 verifizierten Angriffen auf Pressevertreterinnen und -vertreter. RSF berichtet von einer Zunahme der Gewalt von rechts gegenüber Reporterinnen und Reportern seit 2015 – Insider würden vor einem weiteren Anstieg der Übergriffe warnen. Im Februar 2024 beschäftigten RSF zudem die Blockaden von Zeitungshäusern und Druckereien durch Traktoren (der DFJV berichtete).
Generell sei die Pressefeindlichkeit in der Bevölkerung gestiegen: Viele Bürgerinnen und Bürger würden „Berichterstattende, die nicht ihrem eigenen ideologischen Spektrum“ entsprechen, als „Gegner“ ansehen.
„Verengter Meinungskorridor“
Im Zusammenhang mit der Berichterstattung zum aktuellen Krieg in Nahost berichteten viele Medienschaffende RSF von einer sehr großen mentalen Belastung, zum einen durch Auseinandersetzungen mit Redaktionen. So gäbe es einen „stark verengten Meinungskorridor“ in Medienhäusern und journalistische Arbeit, in denen die israelische Kriegsführung problematisiert wurde, sei etwa abgelehnt oder kritisiert worden. Auch würden Aussagen palästinensischer Quellen und unabhängiger Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder den Vereinten Nationen von redaktioneller Seite oft grundsätzlich infrage gestellt – nicht jedoch jene des israelischen Militärs.
Zudem berichten Journalistinnen und Journalisten, die über die Nahost-Thematik berichten, von einer extremen Belastung durch digitale Gewalt, wie durch Hate Speech und Shitstorms, von denen sie aufgrund ihrer journalistischen Arbeit betroffen sind.
Angesichts der Ergebnisse rufen wir die Redaktionen auf, ihre Bemühungen bezüglich einer ausgewogenen Berichterstattung zu verstärken und bei der Berichterstattung über Nahost-Thematiken kritische Selbstreflexion walten zu lassen. Darüber hinaus halten wir die Medienhäuser an, die für sie tätigen Journalistinnen und Journalisten zu schützen und in Belastungssituationen zu unterstützen. Falls entsprechende Angebote nicht intern zur Verfügung gestellt werden, müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über existierende Unterstützungs- und Beratungsangebote für Medienschaffende informiert werden.
Der DFJV unterstützt die Arbeit von Reporter ohne Grenzen als Fördermitglied.
Lesehinweise:
- „Wer hilft Journalist:innen in mentalen Krisen?“ – in unserem Online-Magazin „Fachjournalist“ erhalten Sie eine Übersicht über Hilfs- und Beratungsangebote, an die Medienschaffende sich in mentalen Belastungssituationen wenden können.
- „Interview? Nein, danke“: Wie können Medienschaffende agieren, wenn Bürgerinnen bzw. Bürger ihnen das Gespräch verweigern? Drei Journalistinnen, die Vorgehensweisen und Methoden für schwierige Interviewsituationen entwickelt haben, geben in diesem Beitrag Auskunft.
- In diesem Interview (erschienen 02/2022) gibt der Journalist und Krisen- und Kriegsberichterstatter Enno Heidtmann Medienschaffende Tipps, was es bei Presse-Einsätzen auf Demonstrationen zu beachten gilt und wie sie sich auf die Konfrontation mit gewaltbereiten Demonstrierenden vorbereiten können.
(bearb. Red. 29.04.25)